Dieser Beitrag ist vor allem für Interessierte gedacht, die die Ludwigstaße nicht live vor der Haustür haben. Meine Mitblogger wissen, wovon ich schreibe.
Als ich vor zehn Jahren in die Ludwigstraße umzog, war sie bereits reichlich belebt. Ich nahm das in Kauf – es gefiel mit hier so gut, ich wollte bleiben. Die Straße war halt eine kleine Herausforderung am Rande; das muss man sportlich nehmen, fand ich. Kein Problem für mich damals, ich war Mitte 30 und hatte keine Kinder. Ich dachte nur so weit, wie mancher Entscheider in Sachen Verkehrsführung es wohl auch tut: Bis zu meiner eigenen Grundstücksgrenze.
Heute habe ich einen Sohn, der in die Grundschule geht. Das tut er richtig gerne zu Fuß. Und das, obwohl sein täglicher Schulweg ein aberwitziger Hürdenlauf ist. Stehen Mülltonnen oder andere Hindernisse im Weg, müssen er und seine Schulfreunde vom Gehweglein auf die Straße. Im Winter laufen die Kinder also bei Dunkelheit auf der Straße rum. Weil es nicht anders geht. Und dort herrscht praktisch ungehindert das Recht des Stärkeren. Es gäbe ja Möglichkeiten, den motorisierten Straßennutzern zu signalisieren: – Achtung, hier sind Kleine unterwegs, und die brauchen eure besondere Rücksicht. Aber diese Möglichkeiten bleiben ungenutzt. Jeden Morgen von 7 Uhr 30 bis 8 Uhr wird uns besonders bewusst, was hier fehlt.
Unsere Schule ermutigt uns Eltern ja eigentlich ganz zu Recht, unsere Kinder zu Fuß auf den Schulweg zu schicken: Viele Jockgrimer Kinder genießen einen relativ sicheren Schulweg. Zum Glück. Und genau das wollen wir demnächst auch von unserer Straße sagen können.
Eine Schulbus-Haltestelle gibt es für uns übrigens nicht.
Ich selbst durfte meine Straße vor drei Jahren mal aus einer ganz neuen Perspektive kennen lernen: Ich gehörte einige Monate lang zu den so genannten „mobilitätseingeschränkten“ Menschen. Verletzungsbedingt war ich recht langsam und wackelig unterwegs. Zu Fuß gehen sollte ich aber, meinte der Arzt. Alla gut. Das hat mein Bewusstsein geschärft. Ich habe am eigenen Leib erlebt was passiert, wenn man diese Straße nutzt, ohne zu 100 Prozent fit zu sein.
Ich erfuhr, wie es so ist, wenn man ungeschickt versucht, ein Hindernis zu umgehen – und dabei selbst zum Hindernis wird. Es fehlt ja weiß Gott nicht an Schikanen, an denen man sich hier vorbeiquält. Vom unvermeidlichen Abfall bis zum frech hingegrätschten Privat-PKW. Ich hatte mehrfach das zweifelhafte Vergnügen zu erleben, dass zwischen mich selbst und die weniger achtsamen Motorisierten höchstens noch ein flaches Handtäschchen gepasst hätte. Dabei habe ich Hupen in vielen Tonarten und Unflat in mehreren Stimmlagen kennen gelernt. Weil ich einfach nicht schnell genug wieder vom Straßenrand wegkam! Radfahren durfte ich auch. Nun weiß ich also auch, wie es sich anfühlt, wenn man sehr bedächtig und etwas kippelig aufs Fahrrad steigt, während der viel zu schnelle Verkehr im Sekundentakt an einem vorbeirauscht.
Fazit: Es ist auf die Dauer einfach zu aufreibend. Man bleibt immer öfter daheim, auch wenn viel zu erledigen wäre. Man wird übellaunig und fühlt sich behindert. (Doch wir wissen ja: Behindern ist heilbar.) – Für Rollator-Nutzer oder gar Rollstuhlfahrer dürfte sich das ganz ähnlich anfühlen. Nur extremer.
Ich hätte damals vor drei Jahren natürlich versuchen können, auch dieses kurzfristige Handicap sportlich aufzufassen. Das wollte ich aber nicht. Ich will selbst entscheiden, wo ich meine Herausforderungen suche, und Nahverkehrs-Survival ist nun mal nicht mein Ding. Das habe ich jetzt eingesehen.
Ich habe tolle Nachbarn und will schon allein deshalb hier bleiben, vielleicht sogar bis ich alt bin. Ich will, dass mein Sohn jeden Tag gesund zur Schule und zurück kommt. Deshalb mache ich gerne bei den Aktionen der AG Altort mit.
So lange hier aber noch Survival angesagt ist – survival of the fittest – heißt meine Straße für mich bis auf weiteres: Die Darwinstraße.
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